Interview mit dem Kalligrafen Nicolas Ouchenir
Es ist Montagmorgen. Der Stapel Post, der durch Ihren Briefschlitz fällt, scheint hauptsächlich aus Reklame vom Pizzadienst zu bestehen. Doch dann finden Sie zwischen den unerwünschten Wurfsendungen eine wunderschön mit Ihrem Namen beschriftete Einladung zu einem coolen Event, und Sie vermuten, dass es fantastisch sein wird.
Wir stellen uns vor, dass es einigen Leuten so ergeht, wenn Nicolas Ouchenir seine Hand im Spiel hat. Seit er vor zwölf Jahren in einer ehemaligen Pariser Schlachterei sein eigenes Kalligrafie-Studio eröffnet hat, ist Nicolas zu einem der gefragtesten Schönschreiber der Modewelt geworden. Einladungen zu eleganten Events müssen entsprechend schick sein, und wiederholte Aufträge von Namen wie Vogue, Rick Owens und Hermès deuten darauf hin, dass er eine Erfolgsformel gefunden hat.
Wir sprachen mit dem Meister selbst über Kalligrafie, die nötige Inspiration, um eine Schrift zu kreieren und die einprägsamste Unterschrift aller Zeiten.
Als Kind wollten Sie Metzger werden, dann gingen Sie aufs College, um Wirtschaft zu studieren. Wie kam es dazu, dass Sie schließlich Kalligraf wurden?
Ich hatte immer eine Leidenschaft für Schrift, weil Schrift überall ist – besonders in Paris, der Stadt, in der ich inspiriert wurde. Ich bin zur Wirtschaftsschule gegangen, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Nach einem Praktikum im Finanzbereich, das ich nicht mochte, beschloss ich, in einer Galerie zu arbeiten, weil es mich immer fasziniert hat. Mit Kalligrafie fing ich an, als ich für die JGM Galerie in Paris arbeitete, die zeitgenössische und neo-realistische Künstler repräsentiert. Wir machten eine Ausstellung mit Zeichnungen von Andy Warhol und Kunst von Niki de Saint Phalle und ich schickte handsignierte Karten an alle meine geladenen Gäste. Das Feedback war fantastisch und die Vernissage war ein großer Erfolg. Daraufhin gab ich die Idee von Gruppenmailings und digitalen Einladungen komplett auf und begann, nur noch mit handgeschriebenen Briefen einzuladen. Mein erster Auftrag danach war für den Palast von Versailles – eine Abendveranstaltung der American Friends of Versailles, mit über 700 Gästen. Ich wusste immer noch nicht genau, was ich tat, aber es lief alles gut. Von da an konzentrierte ich mich nur noch auf Kalligrafie.
Wenn die Fashion Week ansteht, erstellen Sie jeden Tag hunderte und tausende von Einladungen, 11 Stunden am Tag. Gibt es einen Trick, um so zielgerichtet zu bleiben?
Ich arbeite immer umgeben von Leuten, was, denke ich, hilft. Ich kann viele tausend Einladungen fertigstellen, ohne es auch nur zu merken. Mir macht es nichts aus, wie verrückt zu arbeiten, also liegt mir die Fashion Week sehr!
Wie ist Ihre Vorgehensweise, wenn Sie Buchstaben oder einen Schriftstil für eine Marke entwickeln? Wie entscheiden Sie, auf welche Elemente Sie den Schwerpunkt legen?
Manchmal geschieht es sofort und manchmal kann es sehr lange dauern. Es gibt keine Regel. Es beginnt mit einer Diskussion, dann entwickle ich ein Mood Board und dann findet Interaktion zwischen den Modehäusern und mir statt, bis wir zu einem endgültigen Projekt kommen. Aber alles inspiriert mich. Ich nutze alle meine Sinne, um zu kreieren.
Als Kind machten Sie Graffiti. Was, würden Sie sagen, sind die Unterschiede zwischen Graffiti und Kalligrafie?
Kalligrafie ist erlaubt, während Graffiti oft verboten ist. Also werden wir nachts tätig. Es ist eine Reise in die Nacht.
Sie sagten mal, dass Sie jeden Tag praktizieren und einmal haben Sie drei Wochen lang mit einem 102jährigen chinesischen Kalligrafiemeister zusammen gearbeitet, ohne zu sprechen. Wie treibt man sich selbst an, wenn man bereits ganz oben ist?
Zunächst einmal betrachte ich meine Kunst nicht wirklich als Arbeit. Auch ein guter Tänzer muss trainieren, um sich zu verbessern. Vor allem geht es darum, Inspiration zu finden, die mir hilft, mich zu verbessern – Reisen, Gedanken, Musik, Zeichnungen, Gemälde…
In welchem Maß, glauben Sie, beeinflusst die Ästhetik der Kalligrafie die Menschen? Kann sie mehr Wirkung haben als die Worte selbst?
Schreiben ist eine Art, Gefühle in einem bestimmten Kontext auszudrücken. Die Wahl ergibt sich aus den Emotionen des Augenblicks. Er wird durch den Rhythmus des Schreibens erfasst. Die Menschen schreiben weniger, weil sie Angst vor sich selbst und Angst vor ihren Gefühlen haben. Unsere Art zu schreiben identifiziert uns und das beängstigt die Menschen. Es offenbart mehr als jede andere Form der Nachricht.
Wenn Sie eine beliebige Person oder Marke wählen könnten, tot oder lebendig, wer wäre ihr letzter Klient?
Hugo Matha, der für mich sehr wichtig ist.
Sie akzeptieren nur nicht-exklusive Verträge. Hat sie das jemals Aufträge gekostet?
Kunst ist Freiheit und Selbstentfaltung. Wenn ich kreativ bleiben will, kann ich mich nicht an Exklusivverträge binden. Das Wichtigste an meiner Arbeit ist die Interaktion mit Menschen und Marken.
Als Sie übten und lernten, haben Sie Unterschriften von Leuten wie Andy Warhol kopiert. Wer hat Ihrer Meinung nach die einprägsamste Unterschrift?
Rick Owens, ohne Zweifel!
Sie sagten, dass Ihre Inspiration für Schriftzeichen von überall kommt. Was ist die seltsamste Sache, von der Sie je inspiriert waren?
Generell inspiriert mich alles, was um mich herum ist. Die Straße inspiriert mich ungeheuer. Aber eines Tages habe ich mal mit einem Schnitt im Finger gezeichnet. Das Blut, das über das Papier lief, erzeugte wunderschöne Flecken.
Foto : Gaël Turpo
Von Jonathon Bartlett
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